Andrea Groh – Als ich hochbegabt war, Gastbeitrag

Gastbeitrag zum Thema Hochbegabung

Andrea Groh, freie Lektorin, hat beim Blogwichteln meinen Blog zum Thema: Hochbegabung bei Erwachsenen, gelost

Button für das Blogwichteln vom Frauen-Netzwerk Texttreff

und überlegt, wie es wohl wäre … hochbegabt zu sein. Es kamen drei interessante Überlegungen dabei heraus.

Dieser Gastbeitrag wurde im Rahmen des Blogwichtelns des Netzwerkes Texttreff initiiert. Wie schon im letzten Jahr wurden Blogs und Blogger von den Textinen in einen Topf geworfen und ausgelost. Mir wurde die Lektorin Andrea Groh zugelost, die witzigerweise auch die Lektorin meines Ratgebers: Hochbegabung bei Erwachsenen ist. Aber dieser eventuelle Interessenkonflikt war keiner, wie im Folgenden zu lesen ist.

Als ich hochbegabt war von Andrea Groh

Als ich hochbegabt war, war ich vom ersten Atemzug an ein Überflieger. Ich sparte mir den ersten Schrei, schluckte den Schleim runter und starrte die Hebamme, die mich in ihren Händen hielt, so verständig wie möglich an. Sie starrte zurück und erzählte später allen, dass sie noch nie ein Neugeborenes wie mich erlebt hätte, das aussah, als würde es die Geburt und die Welt verstehen.

Sechs Monate lang ernährte ich mich ausschließlich von Muttermilch, dann hörte ich vom einen Tag zum andern damit auf und ließ meine Mutter mit milchtropfenden Brüsten stehen. Es war Zeit, mich hinzusetzen und am Tisch alles mitzuessen, was meine Familie aß. Mit vier Jahren brachte ich mir selbst das Lesen bei, mit dem Schreiben wartete ich noch, um meine Eltern nicht zu überfordern. Ich sagte ihnen aber rechtzeitig, dass ich mit fünf Jahren in die Schule gehen müsse, und so kam es. In der Schule nahm ich alles mit, was mir geboten wurde, und ein-zwei Lehrer förderten mich, sodass es nicht gar zu langweilig wurde. Wenn ich es nicht mehr aushielt, durfte ich ins Musikzimmer gehen und dort singen. Ich hatte keine Lust auf ein Musikinstrument gehabt, wollte aber meine Stimme formen, sodass sie genau das machte, was ich wollte, gleich ob ich sprach oder sang. Ich hätte in jedem Fach Einsen haben können, gab mir aber Mühe, ab und zu auch Zweien und Dreien zu bekommen, schließlich wollte ich sozial kompatibel sein. So war die Schulzeit halbwegs erträglich, mit 16 machte ich mein Abitur. Dann fiel ich in ein Loch, weil ich nicht wusste, was ich anfangen sollte, studierte dann aber doch ein Fach mit Wirtschaft, fragt mich nicht, was, es ist nicht wichtig. Ich wurde Manager und nahm jedes Jahr drei Monate frei, um in dieser Zeit mit meinem Singen auf den großen Bühnen aufzutreten. Das gibt es nicht, sagt ihr? Mit dem richtigen Agenten und einem guten Stellvertreter geht alles. Ich hatte viel Geld und heiratete auch irgendwann, wir bekamen Kinder. Als sie aus dem Gröbsten raus waren, begann ich mit dem Schreiben. Ich schrieb komplexe Romane, die im Feuilleton in den Himmel gelobt wurden und auch tatsächlich gelesen wurden, von so vielen, dass ich mit den Auflagen Stephen King Konkurrenz machte. Einen Intelligenztest habe ich nie gemacht, wozu auch?

Als ich hochbegabt war, ging ich in den Kindergarten und in die Schule wie jedes andere Kind auch. Ich fiel nie auf, ich war der in der dritten Reihe, den die Lehrer sofort vergessen, wenn sie ihn ein paar Tage nicht sehen. Mein liebstes Fach war Mathe, ich war mathebesessen. In Mathe verstand ich schnell und wenn ich es nicht verstand, suchte ich erst allein und dann zur Not mit dem Lehrer nach der Lösung. Ich konnte mir Sachen sehr gut merken und die anderen ließen mich immer die Partys und die Ausflüge planen, das kann ich einfach besser als jeder sonst. Aufs Studieren hatte ich nach der Schule keine Lust, ich ging als Au-pair in die USA und blieb dort. In meiner Au-pair-Zeit hatte ich überlegt, womit ich mein Geld verdienen wollte und auch nach Monaten keine Idee gehabt. Bis mich beim Shoppen einer ansprach, der Umfragen machte, und wir uns auf einen Kaffee ins nächste Starbucks setzten. Ich fing dann in dieser Marktforschungsfirma an, erst quatschte ich stundenweise Leute auf der Straße an, dann rief ich Leute an, dann rutschte ich in die Büros, wo die Fragen zusammengestellt und ausgewertet werden. Ich hatte wieder mit Zahlen zu tun und mir war ziemlich schnell klar, dass das mein Beruf war.

In der Firma lernte ich jemanden kennen, wir waren zwei-drei Jahre zusammen, dann kamen die Kinder. Das älteste hatte Probleme in der Schule, es war nicht dumm, kam aber nicht mit und kam auch so nicht zurecht. Eine Lehrerin empfahl uns einen Intelligenztest, und dabei kam heraus, dass das Kind einen sehr hohen IQ hat. Das Institut, das den Test durchführte, riet uns Eltern, ebenfalls einen Test zu machen, warum nicht, dachte ich. Mein IQ war tatsächlich überdurchschnittlich, was mir in der Zeit danach einige durchwachte Nächte bescherte: Hätte ich etwas anders machen können? War mein Leben so okay, wie es war? Nach ein paar Wochen war meine Antwort: Ja, mein Leben ist okay, wie es ist. Ich wollte kein anderes. Das Thema war damit natürlich trotzdem nicht abgehakt, denn für unser Kind fing ja gerade alles erst an, und der Weg dieses Kindes schien nicht so glatt zu werden wie meiner …

Als ich hochbegabt war, wollte ich nicht auf die Welt, stellte mich quer und wurde mit einem Kaiserschnitt aus dem Bauch meiner Mutter geholt. Meine Eltern und mein Bruder schienen mir manchmal von einem anderen Stern zu kommen oder zumindest aus einem anderen Land, sie verstanden meine Sprache nicht – was ich ihnen sagte und was ich von ihnen wollte. Das Leben funktionierte trotzdem, ein Kind ist schließlich ganz und gar von den Menschen abhängig, die seine Familie sind. Und es gab auch schöne Momente. Als ich endlich in die Schule kam, dachte ich, alles wird gut. Endlich schreiben und lesen lernen, endlich Leute, die auf meine Fragen antworten. Am Anfang war es gut, bald nicht mehr. Als ich nicht mehr alles sofort begriff, verlor ich den Faden und es war mühsam, ihn wiederzufinden. Die anderen Kinder und die Lehrer waren bald wie meine Familie: anders als ich. Oder: Ich war anders als sie. Warum, wusste ich nicht, und es konnte mir auch keiner sagen. Eine Lehrerin verstand vielleicht ein bisschen: Sie nahm sich Zeit für mich und wiegelte meine Fragen nicht als dumm und überflüssig ab. Aber sie war nur ein Schuljahr da, dann kam sie nicht mehr. Warum, weiß ich nicht. Irgendwie schaffte ich die zehn Schuljahre und hatte am Ende einen Abschluss. Aber was sollte ich damit machen? Ich wollte nicht weiter in die Schule, und so begann ich eine Ausbildung. Ein Bürojob, welcher Art, müsst ihr nicht wissen. Ich war wie eingesperrt in diesem kleinen Büro, zusammen mit einem Kollegen, ich konnte mit diesem Beruf nichts anfangen. Lehnte aber nicht ab, als der Chef mich nach der Ausbildung fragte, ob ich bleiben wolle. Ich blieb und saß meine Zeit ab und wusste, dass es niemandem etwas brachte, dass ich tat, was ich tat, zuallerletzt mir selbst. Aber was sollte ich sonst tun? Im Herbst und im Frühling hatte ich Depressionen, und wenn es nicht mehr ging, ließ ich mich krankschreiben. Mein Ruf bei den Kollegen war nicht der beste, ich war der, der sich dauernd vor der Arbeit drückte und die anderen machen ließ. Es war mir egal, was sie dachten. Mein Psychologe ging in Rente und sein Nachfolger fragte mich all die Fragen noch einmal. Und sagte mir, ich solle einen Intelligenztest machen. Warum?, wollte ich von ihm wissen, und überlegte ewig, was ich tun sollte. Was, wenn ich hochbegabt war? Was, wenn nicht? Mit der Ungewissheit konnte ich nicht leben, und so machte ich den Test. Hochbegabt, so lautete das Ergebnis, und ich war glücklich wie nie zuvor und vollkommen überrumpelt zugleich. Mein Leben begann jetzt noch mal von vorn. Aber was würde ich damit anfangen?

Andrea Groh, Dezember 2012

4 Replies to “Andrea Groh – Als ich hochbegabt war, Gastbeitrag”

  1. Pingback: Textgeschenke | querbeet gelesen

  2. Sehr schöne Texte — so locker-flockig sie sich lesen, so leicht wird dem Leser, der Leserin klar, dass die Sache mit der Hochbegabung so einfach nicht sein kann 😉 Auf dass viele, die das lesen, künftig genauer hinsehen — und auch jene Menschen mit überdurchschnittlichem IQ, die sich selbst eher in Text 2 oder 3 wiederfinden, entsprechende Förderung und viel Verständnis erfahren.

  3. Tolle Idee, ‘hochbegabt’ in drei Varianten durchzuspielen. Da gibt es vieles, wo sich Menschen wiedererkennen können. Die spannende Frage ist wirklich, wie es dann weitergeht, wenn man diesen IQ-Test nun macht und eine Definition hätte. Was ändert sich? Schön, wenn es – wie in dem einen Beispiel – heißt: “Ja, mein Leben ist okay, wie es ist. Ich wollte kein anderes.”

  4. Pingback: Die Peinlichkeit der eigenen Wertschätzung | Eine wie ich. Auf- und Abzeichnungen einer Rückkehr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*