Es war einmal …


… eine Frau, die von vielen geliebt wurde und erfolgreich war. Das war sie, weil sie sich in jedem Gespräch anpasste, immer die Position der anderen verstand und sie mitreißen konnte. Sie setzte sich für Schwächere ein und motivierte sie, ihre Ziele zu erreichen. Ihr Blick war stets auf das nächste Ziel gerichtet, sie ließ sich von nichts ablenken. Alles ordnete sie dem Erfolg unter, ob bei der Arbeit oder beim Hobby. Sie wollte anerkannt werden und dazugehören, dafür tat sie alles. Sie flog für diese Erfolge immer mit dem Düsenjet, damit sie keine Zeit verlor – je schneller, desto besser, denn schneller sein bedeutete mehr Erfolge. Unterwegs bekam sie nicht viel mit, ihr Blick war stur auf das nächste Ziel gerichtet. Da sie alles für den Erfolg tat und darüber sich selbst vernachlässigte, meldete sich immer öfter ihr Körper, aber das ignorierte sie, weil Pause machen bedeutete, dass sie keine Erfolge einheimsen konnte.

Viele beneideten sie wegen ihrer Konzentrationsfähigkeit, ihrer Fokussierung auf das Ziel, ihrer Motivationsfähigkeit, ihrer Zielstrebigkeit. Vielen war sie auch ein Vorbild.

Eines Tages stürzte sie mit dem Düsenjet ab, mitten im Nirgendwo. Als sie sich aufgerappelt hatte, merkte sie, dass ihre Fassade in viele Tausend Stücke zersprungen war. Sie fand sich nackt und hilflos. Obwohl sie noch sehr schwach war, versuchte sie ihre Fassade wieder zusammenzusetzen. Aber keine zwei Teile passten zusammen, so sehr sie sich auch bemühte. Das ermüdete sie und machte sie traurig. Ob ihrer Hilflosigkeit ohne diese Fassade erschrak sie. Dachte sie doch immer, dass ihre Stärke von innen kam. Sie musste erkennen, dass dem nicht so war.

Sie suchte nach Hilfe und fand bald ein paar Menschen. Aber sämtliche Begegnungen mit anderen Menschen fraßen sie innerlich auf. Jedes Wort, jeder Blick, jede Handlung waren zu viel und verletzten sie tief in ihrem Inneren. Um sich vor den Gefahren zu schützen, die ohne Fassade überall lauerten, fraß sie sich ein dickes Fell an. Es gab ihr Sicherheit, und Verletzungen prallten daran besser ab. Das dicke Fell schützte sie zwar, aber es machte sie träge und langsam. Sie konnte keine Leistungen mehr erbringen, nicht in dem Maße wie früher. Sie ging zurück ins Nirgendwo, wo sie allein, aber geschützt war.

Von ihrer Selbstsicherheit, ihrem Selbstbewusstsein, ihrem Selbstvertrauen und ihrer Selbstliebe war nichts mehr übrig, es war alles nur ein Schein. Alles, was sie glaubte zu sein, war mit der Fassade verloren gegangen. Wer war sie eigentlich? Ohne ihre Fassade war sie nichts, aber wie konnte das sein? Ihr Wissen über sich selbst war eine Lüge.

In ihrer Situation konnte sie niemandem helfen. Andren zu helfen hatte sie früher immer aufgebaut. Niemand lobte sie und verlieh ihr damit scheinbares Selbstbewusstsein. Sie musste es wohl oder übel von innen aufbauen. Sie musste zu sich ein anderes Verhältnis finden. Ihr Körper war keine Maschine, die gefälligst zu arbeiten und zu funktionieren hatte, damit sie ihre Ziele und Erfolge erreichte. Sie musste sich und ihren Körper respektieren, Verantwortung für sich und ihren Körper übernehmen. Das musste sie erst üben, ganz neu lernen. Das war ein hartes Stück Arbeit für die Frau, mit Herausforderungen, die sie zuvor nicht kannte. Sie erarbeitete sich alles selbst, Schritt für Schritt.

Noch etwas war neu. Früher lebte die Frau von der Vorfreude. Sie strengte sich an, weil sie sich schon mit der Medaille um den Hals sah. Das gab ihr die Kraft, immer weiterzumachen. Nun aber, ohne diese Vorfreude, lernte sie im Hier und Jetzt zu leben. Das entspannte sie, sie war flexibler und konnte auf Unvorhergesehenes besser reagieren. Sie sah Dinge, die sie vorher nicht sehen konnte. Denn die Vorfreude ließ sie früher mit Scheuklappen durchs Leben gehen, die Dinge am Wegesrand nahm sie nicht wahr.

Irgendwann fühlte sie sich anders. Eine innere Stärke, die mehr und mehr wuchs, sodass sie ihr dickes Fell Zentimeter um Zentimeter reduzieren konnte. Es war, als füllte sie sich langsam von innen auf. Sie genoss das neue Gefühl in vollen Zügen. Mit dieser neu gewonnenen Kraft unternahm sie einen erneuten Versuch, unter Menschen zu gehen.

Sie fand schnell ein paar Menschen. Der Kontakt mit ihnen brachte neue Herausforderungen: Sie spürte stark, dass ihr die Fassade fehlte. Die aufgebaute innere Stärke reichte nicht aus. Alles, was sie erlebte, kam direkt in sie hinein und verletzte sie. Um sich zu schützen, verstärkte sie wieder das dicke Fell und zog sich freiwillig zurück in die Wildnis. Dort überlegte sie sich Strategien, um ihre innere Stärke weiter zu festigen und gewappnet zu sein, wenn sie mit anderen Menschen zusammentraf. So gestärkt unternahm sie immer wieder neue Anläufe, jedes Mal baute sich ihre innere Stärke weiter auf, besonders wenn sie Rückschläge erlitt. Auch wenn diese sie zuerst immer lahmlegten.

Eines Tages spürte sie, dass nur noch ein klitzekleiner Rest fehlte, um ganz ausgefüllt zu sein. Sie war nun bereit, vielen Menschen zu begegnen. Mit ihrer Stärke, ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstliebe behauptete sie sich zwischen all diesen Menschen, es war ein bisschen wie früher. Eigenschaften kamen zum Vorschein, die sie für immer verloren glaubte, sie traten zu dem, was sie jetzt war. Dieser Mix gefiel ihr gut. Sie spürte, dass sie endlich wusste, wer sie war.

In dem neuen Leben übernahm sie die Verantwortung und sorgte für sich. Merkte sie nun, dass sie kaputt oder müde war oder dass Begegnungen und Situationen sie überforderten, zog sie sich zurück oder setzte Grenzen. Dafür musste sie aber nicht mehr in die Wildnis, sie fand auch unter den Menschen Plätze, an denen sie zur Ruhe kam und sich entspannte. Diese Rückzüge gaben ihr Kraft, um die nächsten Herausforderungen anzunehmen.

Manchmal blickte die Frau zurück und verglich ihre Situation vor dem Absturz und jetzt. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Als würde die Frau nun endlich leben und mitten im Leben stehen.

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