Kapitel 2.6.

2. Hochbegabung – was heißt das?

2.6. Underachiever – wie Hochbegabte zu Minderleistern werden

Underachievement liegt dann vor, wenn bei einem Schüler/einer Schülerin zwischen der aufgrund seiner/ihrer intellektuellen Kompetenz (z. B. IQ) zu erwartenden Schulleistung und der gezeigten Performanz (beobachtete Schulleistung, z. B. Zensurendurchschnitt) eine pädagogisch-psychologisch relevante Diskrepanz vorliegt, wobei die gezeigte Schulleistung wesentlich schlechter als die zu erwartende ist.[i]

Underachievement wird im Deutschen unglücklich mit Minderleistung übersetzt. Rost findet es besser, von erwartungswidrig schlechter (Schul-) Leistung zu sprechen.[ii]

Mit anderen Worten: Ein Schüler, der aufgrund seiner Intelligenz besser sein könnte, als es seine Schulnoten aussagen, wird als Underachiever bezeichnet.

Leistungskriterien in der Schule sind nicht immer nachvollziehbar, Schulnoten werden oftmals danach vergeben, was der Lehrende von den Schülern erwartet. Entsprechen die Antworten nicht der Erwartung, wird die Leistung als mangelhaft bewertet. Je nachdem, wie eine Leistung definiert wird, kann so ein hochbegabter Mensch zum Minderleister werden.

Auch Vorurteile gegenüber Hochbegabten bedingen bestimmte Kriterien. So ist ein hochbegabter ein schlechter Schüler, wenn er nicht überall die Note sehr gut erhält, oder wenn er für sehr gute Noten viel lernen muss.[iii]

Underachiever sind Talente, deren Leistung aktuell beeinträchtigt ist, wodurch sich bei Nichtintervention ungünstige Prognosen für die Erreichbarkeit von Leistungsexzellenz ergeben.

Hochleistende sind Personen, die ein festgesetztes Leistungskriterium erfüllt haben. [iv]

Die Betonung liegt bei diesen beiden Definitionen von Albert Ziegler auf der erbrachten oder nicht erbrachten Leistung, die von Hochbegabten erwartet wird. Bei den Underachievern wird die Diskrepanz der Erfolge hauptsächlich an den Schulnoten oder -leistungen festgemacht.

Sowohl der Begriff als auch die Bedeutung von Minderleistung sind negativ. Jemand schafft eine Leistung nicht, die er nach seinem IQ erbringen müsste – damit wird diese Gruppe an den Rand gedrängt. Hier soll Underachievement anders definiert werden. Gestützt durch die Gehirnforschung (siehe Kapitel “Hirnforschung”) ergibt sich Folgendes:

Underachievement ist das Ergebnis von Unterforderung. Wenn dem Menschen keine Herausforderungen gestellt werden und wenn die Aufgaben zu leicht sind, kann er sich keine Selbsteinschätzung erarbeiten. Er lernt nicht zu lernen – ihm fehlen Lernstrategien. Er kann mit Aufgaben nicht umgehen, die anfänglich Probleme bereiten, da sich nicht sofort die Lösung abzeichnet. Erlebt er keine Lernprozesse, erfährt der Hochbegabte auch nicht den Genuss einer Belohnung durch Dopamin oder Opioide. Dieser Mensch kann wegen Unterforderung bestimmte Erfahrungen und Reifungsprozesse nicht durchlaufen. Wenn jemand keine Herausforderungen erhält, befindet er sich in einem Zustand der “erlernten Hilflosigkeit”. In dieser erlernten Hilflosigkeit fallen die Leistungen nicht wie erwartet aus und Wissensinhalte werden aus Langeweile, Unlust und Unaufmerksamkeit nicht aufgenommen. Irgendwann wird dieser Mensch als Underachiever bezeichnet.[v]

Hochbegabte werden – wie alle – durch ihr Umfeld beeinflusst (siehe Kapitel “Einflüsse auf die Entwicklung nach der Geburt”, “Bezugspartner”, “Auswirkungen des Schulsystems auf Hochbegabte”, “Die Bedeutung des gesellschaftlichen Umgangs”). Die fehlende Forderung in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule kann zur Folge haben, dass sie unterfordert sind und zu Minderleistern werden. Aber nicht jedes Kind, das unterfordert ist, wird ein Minderleister. Mehr als die Hälfte der hochbegabten Kinder schafft es trotz Unterforderung, Leistungen im oberen Drittel abzuliefern. Dennoch bilden Unterforderung und der dadurch fehlende Aufbau der Hirnstrukturen die Grundlage für Underachievement.[vi]

Laut Ziegler ist die Wahrscheinlichkeit, eine Leistungsexzellenz zu zeigen, bei einem IQ von 118 bis 120 am höchsten. Dieser Bereich gehört nicht zur Hochbegabung, die erst bei einem Wert von 130 beginnt.[vii]

Leistungsexzellenz beruht auf Lernprozessen. Wie kann es sein, dass nicht 100 % der hochbegabten Menschen die Leistungsexzellenz erreichen?

Werden Lernprozesse nicht dem Gehirn angepasst, so besteht die Gefahr von erlernter Hilflosigkeit. Grundlage des Erfolges sind die Lernprozesse und deren Auswirkungen auf das Gehirn. Im Gehirn werden Abbau- und Aufbauprozesse in Gang gesetzt, ohne die keine herausragenden Leistungen möglich sind. Wird ein hochbegabter Schüler nicht effektiv gefordert, können die notwendigen Aufbauprozesse im Gehirn nicht stattfinden, und er gerät gegenüber anderen ins Hintertreffen.[viii]

Lediglich 15 % der hochleistenden Schüler sind Hochbegabte. Die anderen 85 % sind nicht hochbegabt und erbringen trotzdem Höchstleistungen.[ix]

Das Schulsystem ist für normalbegabte, und nicht für hochbegabte Schüler entwickelt. Viele Lehrer sind auch heute noch der Meinung, dass hochbegabte Schüler allein lernen, und kümmern sich um die normal- oder minderbegabten. Mit anderen Worten fehlt vielen Hochbegabten das optimale Lernumfeld. Bei Studien zur Leistungsexzellenz wurde belegt, dass Hochleistenden ein exzellentes Lernumfeld zur Verfügung stand, in dem sie ihr Handlungsrepertoire erweitern konnten. Fehlt demnach den (nicht hochleistenden) Hochbegabten das entsprechende Lernumfeld? Immerhin geht es um 85 % der hochbegabten Schüler.[x]

Nicht alle Minderleister werden in der Schule dazu gemacht, manche Kinder erbringen bereits bei Schuleintritt nicht die von ihnen erwarteten Leistungen. Ein Blick auf das Umfeld des Kindes ist notwendig: Ein hochbegabtes Kind unterscheidet sich von Gleichaltrigen und gehört damit gewissermaßen einer Minderheit an. Trotzdem hat dieses Kind das Bedürfnis nach individueller Entfaltung und sozialer Zugehörigkeit – wie alle anderen Kinder auch. In Bezug auf diese Wünsche gehört es zur Mehrheit und ist ein “normales” Kind. (Siehe Kapitel “Einflüsse auf die Entwicklung nach der Geburt”) Die Probleme beginnen, wenn seine Umwelt von ihm fordert, zu sein wie andere Kinder, sprich, seine Begabung nicht zu nutzen.[xi]

“Sei wie die anderen Kinder. Die anderen können doch auch leise spielen. Die anderen begnügen sich auch mit dem Spiel. Du fängst alles an und verlierst die Lust. Guck, die anderen haben ein Interesse und bleiben dabei.” Sicherlich können Sie sich an ähnliche Aufforderungen erinnern? Diesen Weisungen wird das Kind nicht nachkommen, denn dieses Verhalten kann der kleine Mensch nicht leisten. Das Kind wird überfordert und mit dieser Überforderung allein gelassen. Es kann sich in den seltensten Fällen mit jemandem besprechen und bekommt in seinem Alter kaum mit, was von ihm erwartet wird. Im Grunde genommen könnte man von einem Menschen genauso gut verlangen, er sollte nicht mit der Lunge atmen. Bei hochbegabten Kindern wird aber genau das getan. Dadurch suggerieren Eltern und Erzieher den Kindern, sie seien nicht gut genug, um die geforderte Aufgabe zu erfüllen. Ihnen wird mit jeder Aufforderung das Gefühl vermittelt, ein Versager zu sein.[xii]

Hinzu kommt, dass diese Bitten von Bezugspersonen geäußert werden, zu denen das Kind sich hingezogen fühlt und denen es alles recht machen möchte – aber nicht kann. Zu der Überforderung kommt der Schmerz, einem lieben Menschen wehzutun und es nicht ändern zu können. Machtlos erlebt das Kind, wie es seine Liebsten verletzt, verärgert und gegen sich aufbringt. Dabei versucht es alles, um dazuzugehören! (Siehe Kapitel “Bezugspartner”)

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass das Kind in der kognitiven Entwicklung weiter ist als seine Altersgenossen, und seine Umwelt von ihm diese Stufe auch in der emotionalen und sozialen Entwicklung erwartet. Damit wird das Kind wiederum überfordert. Es soll Entwicklungsschritte im emotionalen und sozialen Bereich überspringen, was ihm jedoch nicht möglich ist.[xiii] (Siehe Kapitel “Eine mögliche Fehlentwicklung am Beispiel der Entwicklungsstufen”)

Die ständigen Überforderungen und fehlenden Herausforderungen haben auf hochbegabte Kinder unterschiedliche negative Wirkungen – bis hin zu Depression, Persönlichkeitsstörungen und Suizidgedanken. Das Kind legt sein Hauptaugenmerk auf das Sich-Fügen und Sich-Anpassen. Seine Neu- und Weiterentwicklung in Bezug auf seine Innen- und Außenwelt kommen dabei zu kurz. Die Konsequenzen sind nicht selten Verhaltensstörungen, die sich unter anderem auch in der Schule negativ auswirken.[xiv]

Viele Hochbegabte denken, dass sie in ihrem Leben zu wenig leisten. Sie messen sich mit denselben Wertmaßstäben wie ihre Umwelt: Schulnoten, Ausbildungsabschlüsse, Einkommen, berufliche Position. Wenden Hochbegabte fremde Wertmaßstäbe an, bekommen sie den Eindruck, sie seien Underachiever, obwohl sie laut Definition nicht dazugehören. Sie absolvieren zum Beispiel ein Studium und arbeiten dann als Ingenieur in einem Unternehmen. Oder sie besitzen eine Führungsposition und verdienen entsprechendes Geld. Trotzdem sind sie der Meinung, sie hätten mehr erreichen müssen und nicht genügend aus ihren Möglichkeiten gemacht. Diese Diskrepanz von Fremd- und Selbsteinschätzung könnte auch die unterschiedlichen Zahlen für Underachiever erklären, welche von 15 bis 60 % reichen. Viele Hochbegabte definieren sich keinen eigenen Wertemaßstab, doch fremde Werte können die eigenen Werte nicht ersetzen. Aus diesem Grund schätzen sie ihre Erfolge im fremden Wertesystem nicht so hoch ein oder beachten sie gar nicht. Dieser Leistungsdruck, den sich viele Hochbegabte zusätzlich aufbauen, kommt zu der Überforderung im Umgang mit der Umwelt hinzu. Diese Menschen müssen einem enormen Druck von außen wie von innen standhalten, was nicht immer gelingt. Der erste Schritt aus diesem Dilemma ist, sich seiner Situation, seiner Fähigkeiten bewusst zu werden und die Umwelt als das wahrzunehmen, was sie ist – anders.

“Ich bin ein Minderleister”, ist aufgrund der tendenziell eher negativen Selbsteinschätzung leichter gesagt als “Ich bin ein Hochleister”. Wie ist es bei Ihnen? Wie erwähnt, fehlt Hochbegabten oft das eigene Wertesystem. Doch ein Mensch, der nach fremden und nicht erreichbaren Werten lebt, ist zum Scheitern verurteilt. Der einzige Weg aus dem gefühlten wie auch definierten Underachievement führt über die Entwicklung eines eigenen Wertesystems.

Analysieren Sie sich und Ihre Aktivitäten: Warum handeln Sie so und nicht anders; warum bereiten Ihnen manche Arbeiten keinen Spaß; was würde Ihnen Spaß machen; bei welchen Aktivitäten sind Sie Feuer und Flamme? Wenn Sie sich solche Fragen stellen, arbeiten Sie an Ihrem Wertesystem und entfernen sich von fremden Wertesystemen. Es gibt nur gut 2 % Hochbegabte, die Norm der anderen 98 % passt einfach nicht auf sie. Wenn Sie nicht verstanden werden, machen Sie sich klar, dass Sie anders sind. Es ist nicht einfach, sich gegen eine Mehrheit zu wenden, aber manchmal wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben.

 


[i]           Rost, Detlef H., Underachievement aus psychologischer und pädagogischer Sicht, in: news&science, Begabtenförderung und Begabungsforschung, özbf, Nr.15/Jan 07, S. 8-9.

[ii]   vgl. Rost, Detlef H., Underachievement aus psychologischer und pädagogischer Sicht, in: news&science, Begabtenförderung und Begabungsforschung, özbf, Nr.15/Jan 07, S. 8-9.

[iii]           vgl. Ziegler, Albert, Hochbegabung, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2008, Seite 13.

[iv]           Albert Ziegler, Hochbegabung, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2008, Seite 18.

[v]           vgl. Scheich, Prof. Dr. Henning, Lern- und Gedächtnisforschung, Schulentwicklung mit Hilfe der Neurobiologie, 2003.

[vi]           vgl. Ziegler, Albert, Hochbegabung, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2008, Seite 15.

[vii]           vgl. Ziegler, Albert, Hochbegabung, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2008, Seite 37.

[viii]           vgl. Prof. Dr. Henning Scheich, Lern- und Gedächtnisforschung, Schulentwicklung mit Hilfe der Neurobiologie, 2003.

[ix]           vgl. Ziegler, Albert, Hochbegabung, Ernst Reinhardt Verlag, München, 2008, Seite 15 + 32.

[x]           vgl. Heilpädagogik online, 02-2009, Albert Ziegler, „Ganzheitliche Förderung“ umfasst mehr als nur die Person: Aktiotop- und Soziotopförderung

[xi]           siehe Schlichte-Hiersemenzel, Dr. Barbara, 2001, S. 9.

[xii]           vgl. Meiss, Ulrike, Folgen nicht erkannter Hochbegabung.pdf, 05.04.2009

[xiii]           vgl. BMBF, Begabte Kinder finden und fördern, Bonn, 2003, Seite 10.

[xiv]           vgl. Schlichte-Hiersemenzel, Dr. Barbara, Entwicklungsschwierigkeiten begabter Kinder und Jugendlicher in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt, BMBF, Bonn, Berlin 2001 (veränderter Nachdruck 2006), Seite 11.