Vorwort

Vorwort: Wieso, weshalb, warum?

 

Vorurteile und Mythen zur Hochbegabung halten sich hartnäckig. Wer in Erwägung zieht, hochbegabt zu sein, vergleicht sich mit diesen gängigen Vorurteilen und muss meist erkennen, dass er ihnen nicht entspricht – weshalb er dann nicht weiter über Hochbegabung nachdenkt, auch wenn er noch so oft im Leben aneckt und „nicht kompatibel“ scheint. Dabei kann es der Schlüssel zu einem anderen Leben sein, wenn bei Erwachsenen eine Hochbegabung festgestellt wird. Denn wer erfährt, was Hochbegabung wirklich ist, warum er wurde, wie er ist, dass er nicht falsch oder dumm ist, erfährt auch, dass jeder Hochbegabte anders ist und nur selten den landläufigen Vorstellungen entspricht. Wer zudem lernt, sich mit seinen Stärken, Eigenheiten und Schwächen anzufreunden und mit ihnen zu leben, wird sich in der Gesellschaft wohler fühlen. Aber für ein authentisches Leben mit der Hochbegabung muss diese erst erkannt werden.

Erwachsene erfahren von ihrer Hochbegabung oft durch Zufall. Sei es, weil die Kinder hochbegabt sind und die Eltern Parallelen zu sich selbst erkennen, weil im Zuge von Depressionen, Burn-out und ähnlichen Erkrankungen ein Test absolviert wird oder weil bei manchen Studiengängen Intelligenztests obligatorisch sind. Die Auseinandersetzung mit der Hochbegabung hat schon vielen geholfen, aus der Außenseiterrolle herauszutreten und sich zu akzeptieren. Sie leben nicht mehr in Alarmbereitschaft, müssen sich nicht mehr ständig beweisen oder erklären, sondern können ein Leben nach ihren Vorstellungen leben.

Durch meine Tätigkeit als Matheärztin beschäftigte ich mich mit der Förderung intelligenter und hochbegabter Schüler. Zu den hochbegabten Schülern musste ich mir das Wissen erst aneignen, denn ich wusste nichts über Hochbegabung. Ich hatte enorme Vorurteile, wobei Hochbegabte alles andere als gut wegkamen. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema führte dazu, dass ich vermehrt Albträume hatte. Immer öfter erinnerte ich Szenen aus meiner Schulzeit, die ein seltsames, ungutes Gefühl bei mir erzeugten. Schließlich absolvierte ich einen Intelligenztest. Das Ergebnis: hochbegabt. Nun stand ich vor meinem Leben und verstand es nicht mehr. Ich wusste nicht, warum ich so schlecht in der Schule gewesen war, warum ich nicht leichter durchs Leben kam, warum ich mich mit vielen Dingen schwer tat – und ich fing wieder an, mir Vorwürfe zu machen. Ich informierte mich über das Thema und analysierte, warum ich keine „Albertine Einstein“ war, warum ich nicht mit drei Jahren lesen konnte oder wenigstens als Erwachsene durchstartete und vor allem, warum ich im Leben aneckte.

Ich recherchierte und fand: ein Buch. Ein einziges Buch über erwachsene Hochbegabte, in dem sie sich über ihr Leben Gedanken machen. Lediglich ein Buch für Leser, die jedoch nicht nur Porträts lesen, sondern auch herausfinden wollen, warum niemand sie „entdeckt“ hat, warum sie nicht selber in diese Richtung dachten und was sie jetzt ändern könnten. Mein Entschluss formte sich, eigene Erfahrungen und das recherchierte Wissen niederzuschreiben, um anderen Hochbegabten zu helfen.

Der Ratgeber “Hochbegabung bei Erwachsenen” orientiert sich an den spät erkannten Hochbegabten. Er greift Probleme spät erkannter Hochbegabter auf, erklärt Besonderheiten und gibt Tipps für das Leben mit der Hochbegabung. Durch die grundsätzlichen Ausführungen über die Hochbegabung ist das Buch ebenfalls für Eltern mit hochbegabten Kindern geeignet.

In diesem Buch zeige ich, warum es sein kann, dass ein hochbegabter Mensch nicht erkannt wird; warum er in der Kindheit gefordert und gefördert werden muss; warum Selbstliebe eine genauso große Rolle spielt wie Leistungsmotivation (Bestreben sich besonders anzustrengen). Eine Begabung kann sich nur entwickeln, wenn das Umfeld des Hochbegabten die Grundlagen für diese Entwicklung legt. Fehlt diese Unterstützung, werden Hochbegabte heranwachsen, die keiner als solche erkennt. Es kann wie ein Erdbeben sein, wenn ein Erwachsener erfährt, dass er hochbegabt ist. Trotzdem ist diese Erschütterung besser, als weiterhin als Außenseiter zu leben und nicht zu wissen, warum. Natürlich sind nicht alle Hochbegabte Außenseiter, und nicht jeder hat Probleme. Viele arrangieren sich und werden akzeptiert, kommen im Leben gut zurecht. Aber für die, die nach Lösungen suchen, bietet dieser Ratgeber einen Ansatz, ihr Leben zu ändern.

Viele Menschen, bei denen eine Hochbegabung erkannt wurde, werden von einem Gefühlschaos überwältigt. Sie hinterfragen ihre Identität und verzweifeln an Fragen, auf die sie keine Antwort haben und bekommen. Nach dem Testergebnis scheint nichts mehr so zu sein, wie es war. Erreichtes und Erfolge werden ebenso hinterfragt wie Misserfolge. Vielleicht stellen Sie sich ähnliche Fragen?

  • Sind meine Erfolge überhaupt noch als solche einzuordnen?
  • Hätte ich nicht viel mehr leisten müssen?
  • Wieso hat keiner meine Hochbegabung entdeckt?
  • Warum war ich so schlecht in der Schule?
  • Warum habe ich nicht studiert oder promoviert?
  • Warum verstehe ich dann so oft nur “Bahnhof”?
  • Wieso bin ich kein Überflieger?

Das Buch „Hochbegabung bei Erwachsenen“ nähert sich dem Thema in fünf Schritten. Im Kapitel “Rund um den IQ-Test – ein Erfahrungsbericht” zeige ich, wie ich das Testergebnis erfuhr und damit umging. Dies ist meine Geschichte, sie ist jedoch durchaus exemplarisch für das Erkennen der Hochbegabung im Erwachsenenalter. Aus diesem Grund berichte ich nicht in der Ich-Form von meinen Erfahrungen.

Im Kapitel “Hochbegabung – was heißt das?” werden verschiedene Begrifflichkeiten erklärt. Wie lässt sich Hochbegabung definieren? Wie werden Leistungen und Erfolge von Hochbegabten bewertet? Warum ist die Motivation für Leistungen notwendig? Wie werden aus Hochbegabten Minder-leister? Warum spielt beim erfolgreichen Lernen wiederum die Motivation eine wichtige Rolle?

Im Kapitel “Wie wir wurden, was wir sind” werden die unterschiedlichen Einflüsse geschildert, die sich auf die Persönlichkeitsentwicklung und Identität auswirken. Wer versteht, warum er wurde, wer er ist, kann sein Leben ändern und eher nach seinen Wünschen gestalten.

Wie mit der Hochbegabung umgegangen werden kann, erfahren Sie im Kapitel “Umgang mit der Hochbegabung”, und im letzten Kapitel, “Mit der Hochbegabung leben”, gehe ich unter anderem auf Authentizität sowie auf Lernstrategien ein.

Zweifel und Ängste sind bei spät erkannten Hochbegabten teilweise stark ausgeprägt. Eine Identifikation mit der Hochbegabung ist wichtig, um Informationen auf sich zu übertragen, um sich ernst zu nehmen und sein Selbstbild zu verbessern. Erst wenn Hochbegabte sich selbst akzeptieren, werden sie auch von ihrer Umwelt akzeptiert. Andersherum funktioniert es (leider) nicht. Die Stärke eines Menschen kommt von innen, und innere Stärke wird nicht am Lob der anderen gemessen. Innere Stärke wird durch das Eigenlob aufgebaut, welches viele (spät erkannte) Hochbegabte erst Schritt für Schritt erlernen müssen.

 

Manon García