Kapitel 3.5.

3. Wie wir wurden, was wir sind

3.5. Die Bedeutung des gesellschaftlichen Umgangs

In allen Gesellschaften gibt es ungeschriebene Gesetze. Will man dazugehören, gilt es, diese einzuhalten. Welchen Einfluss üben gesellschaftliche Normen auf hochbegabte Menschen und deren Umfeld aus? Inwieweit kann mit Aufklärung zur Akzeptanz von Hochbegabung beigetragen werden?

Hochbegabung wird in den Medien erst seit ein paar Jahren thematisiert. In einem Gutachten, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001 in Auftrag gegeben wurde, wird dargelegt, wie Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950 behandelt wird. Ostdeutschland wurde in der Studie nicht berücksichtigt, da das Schulsystem und auch die Pressearbeit eine grundsätzlich andere waren als in der Bundesrepublik. In der DDR gab es bereits Förderungen für Kinder mit besonderen Begabungen. Die Kosten dafür trug der Staat. In der DDR wurde die Hochbegabtenförderung vom System unterstützt. Des Weiteren beziehen sich die folgenden Ausschnitte ausschließlich auf intellektuelle Hochbegabung, da musische und sportliche in der Gesellschaft anerkannt wurden und werden.[i]

Viele Hochbegabte – besonders spät erkannte – fragen sich, warum die Lehrkräfte nicht oder kaum auf ihre Hochbegabung, auf bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen eingingen und so ein angenehmeres Klassenklima schufen. Viele Diskussionen, Reibereien und auch Disziplinarstrafen hätten sich so umgehen lassen. Diese Frage erübrigt sich, wenn Folgendes bekannt ist:

In der Bundesrepublik war Hochbegabung bis Anfang der 90er-Jahre kein Thema in der Aus- und Weiterbildung derjenigen Fachleute, die am intensivsten mit den Kindern und Jugendlichen zu tun hatten: der ErzieherInnen, der Lehrerinnen und Lehrer.[ii]

So konnte es kommen, dass interessierte Eltern mehr über die Hochbegabung wussten als Lehrer und Erzieher. Hochbegabung war auch in den Printmedien bis 1977 nicht präsent. In der Zeit zwischen 1978 und 1985 begann eine Auseinandersetzung mit ihr, die aber mit ca. 16 Artikeln pro Jahr verschwindend gering ausfiel. Man musste schon sehr aufmerksam sein, um in den Printmedien etwas über dieses Thema zu erfahren. Die Zahl bezieht sich auf Artikel in ganz Deutschland, allerdings veröffentlichten meist regionale Zeitungen. Erst ab 1985 ging es in Deutschland mit der Berichterstattung über Hochbegabung aufwärts, in diesem Jahr fand in Hamburg der 6. Weltkongress des World Council for Gifted and Talented Children statt.[iii]

Nicht nur, dass die Hochbegabung in den Printmedien lange kaum Beachtung fand, im Zusammenhang mit ihr wurde lediglich über Wunderkinder oder Genies gesprochen. Der Leser wurde also entweder nicht informiert – und wenn, dann in einer sehr extremen Art. Nichtsdestotrotz war die Berichterstattung ein Anlass, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die Vielleser erfuhren, dass sich Kinder das Lesen und Schreiben alleine beibringen konnten, und dass nicht immer ehrgeizige Eltern dahintersteckten. Ebenso war zu lesen, dass aus hochbegabten Kindern und Schülern nicht zwangsläufig hochbegabte Erwachsene werden mussten.[iv]

Im Folgenden wird ausführlicher auf die Thematisierung von Hochbegabung in den Printmedien seit 1950 eingegangen.

Dass von 1950 bis 1977 höchstens Berichte über Wunderkinder und Genies veröffentlicht wurden, hatte zur Folge, dass viele Eltern die Begabungen ihres Kindes herunterspielten oder sie im Vergleich mit den Berichten bei ihrem Kind nicht erkannten. Natürlich gab es nach dem Krieg andere Themen als die Begabung des Nachwuchses, man hatte größere Sorgen. In Deutschland wurde Ende der fünfziger Jahre auch nicht auf die Sputnik-Mission der Sowjetunion reagiert. In den USA hingegen entflammte ein Wettlauf gegen den sozialistischen Konkurrenten, den die Amerikaner durch Begabtenförderung gewinnen wollten. In Deutschland hat dieses Ereignis nichts ausgelöst, sodass auch in den sechziger Jahren nur 15 Artikel veröffentlicht wurden, in denen entweder vom Wunderkind, vom Genie oder von Begabung die Rede war. Es war seit Mitte der sechziger Jahre in Deutschland bekannt, dass die DDR überdurchschnittlich begabte Oberschüler in Sonderklassen zusammenfasste, aber dies zog in der BRD keine Reaktion nach sich.[v]

In der BRD wurde das Thema aufgegriffen, als Lückert ein Buch von Glenn Doman aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzte. Doman hatte eine Lesefrühförderung bei Babys und Kleinkindern eingeführt, die in Deutschland übernommen werden sollte. Diese Förderung wurde jedoch ohne Rücksicht auf die Kinder angewandt, auf ihre Möglichkeiten und Bedürfnisse wurde nicht eingegangen. Die Hoffnung, dass aus diesen speziell geförderten Kindern später erfolgreiche Erwachsene wurden, erfüllte sich nicht. Damit war der Forderung nach einer Frühförderung und einer früheren Einschulung die Grundlage entzogen, die Entwicklung verlief dann in die entgegengesetzte Richtung. Womöglich hielt sich aufgrund dieser Fehlversuche noch Jahrzehnte später die Meinung, dass es an ehrgeizigen Eltern liegen müsse, wenn Kinder vor der Einschulung bereits lesen und schreiben können. Es wurde sogar im Bezug auf eine frühere Einschulung vom Diebstahl der Kindheit gesprochen. Es trat eine gegenläufige Tendenz ein, sodass die Kinder möglichst spät eingeschult wurden. Grundsätzlich gab es in dieser Zeit Diskussionen, in denen von einer Bildungskatastrophe die Rede war. Es wurde festgestellt, dass in Nachbarländern wesentlich mehr Schüler einen Schulabschluss erlangten, der ihnen ein Studium ermöglichte. Die Situation von Hochbegabten wurde verschwiegen. Vielleicht ging man davon aus, dass mit dem dreigliedrigen Schulsystem die Bedürfnisse aller Schüler gedeckt waren.[vi]

Im 4. Band der Schriftenreihe der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates, herausgegeben von Heinrich Roth, wurde der 68er-Generation vermittelt, dass Kinder nicht begabt sind, sondern begabt gemacht werden, was durch das Elternhaus sowie durch die Schule erfolge. Daraus zog man zwei Schlüsse: Die Eltern und die Schule haben versagt, wenn ein Kind nichts lernt. Und: Wenn ein Kind mehr weiß, als es sollte, liegt das nicht an der angeborenen Begabung, sondern daran, dass das Kind ehrgeizige Eltern hat. War dies der Fall, kümmerten sich die Lehrer nicht um dieses Kind, weil es weit genug war und Eltern im Rücken hatte, die es förderten.[vii]

Dieser Irrglaube ließ die Förderung der Eltern versiegen, denn sie wollten keine hochbegabten Kinder. Je weniger sie mit dem Kind unternahmen, umso größer war die Chance, dass es die Schule normal durchlief und keine Probleme bekam. Immerhin stand das Ansehen der Eltern auf dem Spiel, die sich nicht als überehrgeizig beschimpfen lassen wollten.

Im November 1971 wurde ein Bericht von einem Jungen veröffentlicht, der an der Regelschule verzweifelte. Zum ersten Mal war nicht von einem Wunderkind die Rede, sondern von Problemen. Eine Beschreibung von Symptomen folgte, die bei Hochbegabten mit Störungen auftreten können: Bettnässen, Schlaflosigkeit, Magengeschwüre, Appetitlosigkeit, Neurosen und Psychosen. Seitdem wird auch dieses Muster in den Medien in Zusammenhang mit Hochbegabung genannt. In diesem Artikel fand sich außerdem die erste Checkliste, anhand der man hochbegabte Kinder erkennen konnte. Dazu unten mehr. Ansonsten wurde das Thema Hochbegabung bis Ende 1977 nicht behandelt.[viii]

Checklisten sind einfach zu handhaben. Sie haben etwas Endgültiges! In der oben erwähnten Checkliste stand, dass hochbegabte Kinder früh laufen und sprechen können. Also waren alle, die diese Eigenschaften nicht erfüllten, automatisch keine Hochbegabten. Aber hochbegabte Kinder unterscheiden sich, was damals in der Form nicht bekannt war. Es fielen also nicht nur die durch das Raster, die keine Überflieger waren, sondern auch die, die nicht in die Checklisten passten. Es blieb nur eine geringe Schnittmenge übrig.

Erste Ansätze, sich mit dem Thema Hochbegabung detaillierter auseinanderzusetzen, waren ab 1978 zu erkennen. Es wurde ein Buch über Probleme mit Kindern veröffentlicht, die über eine sehr hohe Intelligenz verfügen. Der erste Verein für Hochbegabung wurde gegründet (DGhK), und es fand eine weitere Konferenz (6. Weltkonferenz für hochbegabte und talentierte Kinder) in Europa statt. Es begann eine neue Zeitrechnung bei der Art der Berichterstattung. Nicht mehr die Wunderkinder und Genies wurden ins Rampenlicht gestellt, sondern die “normalen” hochbegabten Kinder und deren Probleme. Aufgrund der früheren einseitigen Berichterstattung waren jedoch nach wie vor Vorurteile über Hochbegabte im Umlauf:

  • Hochbegabte können sich selber helfen, sie kommen von allein durch – und wenn nicht, sind sie nicht hochbegabt;
  • Kinder sind nicht begabt (d. h. bringen genetisch etwas mit), sondern werden begabt (durch die Umwelt);
  • Hochbegabtenförderung ist Elitebildung im negativen Sinn, und das ist unerwünscht (6. Weltkongress 1985);
  • Es gibt nur so wenige von ihnen, dass es sich nicht lohnt, sich um sie zu kümmern.[ix]

Wenige widersprachen den Vorurteilen zu Wunderkindern und Genies. Die Folge war eine zunehmende Zahl an Presseartikeln, die auf psychosomatische Störungen bei Hochbegabten eingingen. Es prägte sich ein neues Bild in der Gesellschaft: dass Hochbegabte mit psychischen Störungen zu tun haben. Damit wurde der Genie-und-Wahnsinn-Theorie weitere Nahrung geboten.[x]

Der Durchbruch in der Berichterstattung in den Medien gelang mit der 6. Weltkonferenz für hochbegabte und talentierte Kinder in Hamburg 1985. Das Thema Hochbegabung wurde endlich in den Medien aufgegriffen. Im Vorfeld dieses Ereignisses fand eine unsachliche Berichterstattung über die Hochbegabung statt: Politiker nahmen sich dieses Themas an und sprachen von einer Elitebildung im negativen Sinn. In der Eröffnungsrede des Hamburger Schulsenators zum Weltkongress musste sogar der Vergleich mit Hitler und seiner Elitenförderung herhalten.[xi]

Das negative Image von Hochbegabten und der Hochbegabung im Allgemeinen wurde durch die Polemik vieler Politiker und Hochschullehrer untermauert.

In Presseberichten des Jahres 1985 über Hochbegabung wurden die Begriffe “Wunderkind”, “Genie” und “Elite” ähnlich häufig genannt. Dies missfiel den Eltern, Betroffenen und Unterstützern von hochbegabten Kindern, weil mit all diesen Wörtern Negatives assoziiert wurde. Andere Begriffe, die in der Öffentlichkeit verwendet wurden, waren ebenfalls selten neutral: “Neunmalkluge”, “Eierköpfe”, “Intelligenzbestien”, “Superhirne”, “Geistesakrobaten”. Trotz der überzogenen Reaktionen der Politiker gab es Denkanstöße. Es wurde deutlich, dass die vermeintlichen Experten über kein Wissen verfügten, und man erfuhr, dass es keine Forschungen zur Hochbegabung gab, Deutschland in dieser Hinsicht also ein Entwicklungsland war.[xii]

Die vermehrte Berichterstattung seit der 6. Weltkonferenz erlahmte jedoch bald. Ein amerikanischer Film mit Jodie Foster als Schauspielerin und Regisseurin, “Das Wunderkind Tate”, schaffte es 1991, ein großes Publikum anzusprechen, welches sich sonst für dieses Thema nicht interessiert hätte. Dank der Regiearbeit von Jodie Foster nahmen sich die Medien dieses Themas wieder an und berichteten auch über “reale” hochbegabte Kinder.[xiii]

Die Diskussion war damit in der breiten Bevölkerung angekommen, endlich hatte das Thema in Deutschland sein negatives Image ablegen können. In der Öffentlichkeit wuchs das Bewusstsein, dass auch zwischen den Extremen – Wunderkind und Psychopath – Hochbegabte zu finden waren.

Ein Gutachten von Detlef Rost Mitte der 1990er Jahre wies nach, dass es ungefähr 15 % Hochbegabte gab, die massive Probleme in der Schule hätten. Weiterhin könnten Unterforderung und Langeweile Kinder schädigen, und Eltern und Lehrer seien kaum in der Lage, Hochbegabte zu entdecken.

Im “Stern” wurde auf das Dilemma aufmerksam gemacht, in dem Lehrer stecken, die allen Kindern in ihrer Klasse gerecht werden möchten: “Wenn sie schwächeren Kindern helfen, erleichtern sie ihnen auch den Anschluss an den Klassendurchschnitt. Wenn sie Hochbegabten anspruchsvollere Denk- und Leistungsangebote machen als ihren Mitschülern, wächst der Abstand zum Rest der Klasse.”[xiv]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine neutrale Informationsaufnahme zum Thema Hochbegabung schwierig war. Voller Sensationslust wurde entweder über Wunderkinder und Genies oder im Gegenzug dazu über Entwicklungsstörungen und schwerwiegende Probleme im Leben berichtet. Wer also weder Wunderkind noch absoluter Schulversager war, fiel aus dem Raster der Hochbegabung heraus und war somit normalbegabt. Wie hätten Betroffene erfahren sollen, dass sie trotzdem hochbegabt sein konnten? Diese Misere war ein Grund, warum hochbegabte Menschen nicht erkannt wurden. Seit der Jahrtausendwende wird in den Kindergärten und Schulen auf die Problematik geachtet, und Eltern gehen mit dem Thema objektiver um. Es stellt keinen Makel mehr dar, wenn ein Kind hochbegabt sein sollte.

Heutzutage wird Hochbegabung in den Medien thematisiert. Lehrer und Erzieher werden informiert, es werden Förderungen und Forderungen geboten; eine Folge dieses neuen Weges dürfte sein, dass es in Zukunft weniger unerkannte Erwachsene geben wird.

Aber was ist mit den Hochbegabten, die in der Zeit zuvor nicht erkannt wurden und keine Anerkennung erhielten?

 


[i]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 2 + 3.

[ii]           Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 4.

[iii]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 5+7.

[iv]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 5+7.

[v]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 9.

[vi]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 10+11.

[vii]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 12.

[viii]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 13.

[ix]           Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 18.

[x]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 23 + 32 + 33.

[xi]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 23 + 32 + 33.

[xii]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 36 – 38.

[xiii]           vgl. Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 44.

[xiv]           Heinbokel, Dr. Annette, Hochbegabung im Spiegel der Printmedien seit 1950, Osnabrück, Bonn, Januar 2001, Seite 45.