Kapitel 4.3.

4. Umgang mit der Hochbegabung

4.3. Den Körper und die Gefühle bewusst wahrnehmen und deuten

Die Körpersprache hat zwei Aufgaben: Signale nach außen und an sich zu senden. Sie ist eine Sprache, die es zu beherrschen gilt. Den meisten Menschen ist bewusst, wie sie ihre Umgebung mit Gesten und Mimik beeinflussen können. Ebenso reagieren wir darauf. Die Kommunikation zwischen dem Körper und dem Geist bzw. dem Gehirn gilt es ebenfalls zu verstehen. So sind beispielsweise Krankheiten ein Mittel der Kommunikation. Wenn jemand Kopfschmerzen bekommt oder schlapp und müde ist, drückt sich so sein Körper aus, meist wird er aber falsch verstanden oder ignoriert. Ärzte fragen bei Krankheiten immer öfter den Patienten, welche Probleme oder Sorgen ihn quälen. Dass der Körper mit einem spricht, ist vielen nicht bewusst. Diese Sprache kann erlernt werden, indem man bewusst auf sich achtet oder Bücher zu Rate zieht. Von Rüdiger Dahlke stammt zu diesem Thema “Krankheit als Symbol. Ein Handbuch der Psychosomatik: Symptome, Be-Deutung, Einlösung”.[i] Es ist sinnvoll, sich nicht erst über die Körpersprache zu informieren, wenn die Gesundheit schon gelitten hat.

Verstehen wir unseren Körper nicht, wird er sich mittels Symptomen zu Wort melden. Diese können wir verdrängen oder akzeptieren. Jeder, der sich der Körpersprache bedient, kann in kurzer Zeit große Fortschritte erlangen. Diese Sprache zu lernen bedeutet, sich mit seinen Gefühlen, Wünschen und Träumen zu befassen. Es ist möglich, dass sich Menschen ihrer Körpersprache nicht annehmen, ihren Körper ignorieren, ihre Gefühle verleugnen oder gar verdrängen.

Der Körper äußert sich dann, wenn er nicht optimal benutzt wird. Dazu zählt auch die Nicht-Beachtung einer Hochbegabung. Wenn ein hochbegabtes Kind behandelt wird wie jedes andere Kind, wenn es sich anpassen soll und Liebesentzug, Strafe oder sogar Schläge erfährt, wird das Kind seine eigene Körpersprache nicht erlernen. Aus diesem Kind wird ein hilfloser erwachsener Hochbegabter, der seine Reaktionen nicht versteht. Dieser Mensch ist im Ungleichgewicht und braucht später eine gewisse Zeit, um seine Körpersprache neu zu erlernen.

Psychosomatische Beschwerden sind bei hochbegabten Kindern und auch Erwachsenen keine Seltenheit, besonders, wenn auf die Hochbegabung nicht entsprechend eingegangen wird. Bei ständiger Unterforderung entwickelt ein Kind Störungen. Bei manchen wird das im Kindes- oder Jugendalter entdeckt, bei vielen aber erst im Erwachsenenalter. Diese Menschen versuchen, ihre Probleme und Störungen zu beherrschen, was ihnen nicht gelingen kann.

Die Schwierigkeit ist nicht das Erlernen der Körpersprache, sondern das Akzeptieren der Mitteilung. Dies ist ein großer Schritt, da Symptome, Schmerzen, Probleme oder gar Störungen längst als Teil der Persönlichkeit akzeptiert wurden. Oftmals liegen die Anfänge weit zurück in der Kindheit, sodass man glaubt, man wäre mit ihnen geboren worden. Was macht man aber, wenn man nach Jahrzehnten erfährt, dass das Leben hätte anders laufen können, dass man seine Gefühle, seine Emotionen, seine eigenen Wünsche verdrängte, um in der normalen, akzeptierten Welt leben zu können? Was ist, wenn man feststellt, dass in der Kindheit ein Kompromiss eingegangen wurde, der der inneren Stärke und einem gesunden Selbstbild im Wege steht? Dass die Identifikation nicht optimal verlaufen konnte, weil das Gehirn mehr mit der Angst vor Ablehnung und Abweisung, mit ungerechten Strafen und zu hohen Anforderungen zu tun hatte? Mit dem Testergebnis in der Hand blickt man auf sein Leben zurück, welches sich auflöst, bis nichts übrigbleibt. Es ist nicht mehr klar, welche Gefühle die “richtigen” sind, und welche man sich als Kind aneignete, um überleben zu können. Welche gehören wirklich zu einem – und welche sind Schauspielerei? Schaut man zurück, sieht man ein weinendes und ein lachendes Kind, welches ist das wahre Selbst? Es beginnt eine Zeit, in der man auf die Zeichen des Körpers achten muss. Sie sind in dieser Zeit eine Stütze. Das Gehirn ist manipulierbar, es suggeriert Dinge, die nicht existieren, und arbeitet mit bewussten und unbewussten Signalen. Solange man nicht weiß, wie die Verteilung dieser beiden Anteile ist, sollte man vorsichtig sein. Denn nur der Körper ist ein Freund, der schonungslos die Wahrheit spricht. Anfänglich ist die Körpersprache fast ein Mysterium, welches es zu entschlüsseln gilt. Jeder Versuch führt einen näher an sich selbst heran und offenbart Gefühle, Gedanken und Wünsche. Der Körper ist ein Gradmesser, der einem hilft zurückzugehen, wenn das Gehirn alte Muster abspult. Zu Beginn hat das Gehirn so schnell Lösungen parat, dass man möglicherweise erst sehr viel später entdeckt, dass man zu schnell eine falsche Richtung eingeschlagen hat.

Die Körpersprache lässt sich durch bewusstes Wahrnehmen erlernen. Sie dürfen nicht erwarten, dass Sie innerhalb kürzester Zeit (hierzu sind Monate zu zählen) Ihr antrainiertes Verhalten ändern können. Anfangs mag es sehr frustrierend sein, und Sie denken, dass es nicht vorangeht. Es wird viele Phasen mit Rückschlägen geben, in denen Sie in alte Muster verfallen. Es hilft, wenn alles hinterfragt wird – jeder Satz, jedes Muskelzucken, jedes Gefühl, jedes Magengrummeln, jeder Kopfschmerz sollte analysiert und eingeordnet werden. Gibt es dabei Probleme, können z. B. Bücher bei der Deutung helfen. Die Körpersprache erlernt sich nicht von heute auf morgen, da die Symptome von Ort, Zeit usw. abhängen. Kopfschmerz kann morgens etwas anderes bedeuten als abends. Wird ein Körpersymptom an einem Tag einem Ereignis, einem Gefühl oder einem Verhalten zugeordnet, kann es am nächsten schon das Gegenteil sein. Geben Sie sich Zeit und verlangen Sie nicht zu viel von sich. Immerhin hatten die Folgen Ihrer nicht erkannten Hochbegabung Jahre, um sich in die falsche Richtung zu entwickeln. Sobald die Körpersprache verstanden und umgesetzt wird, kommt man sich selbst näher und positive Gefühle können sich einstellen.

Gefühle – gleich, ob positive oder negative – wirken sich auf das Lernen aus. Wenn ein Mensch nicht in der Lage war, seine Gefühle wahrzunehmen oder zuzulassen, wurde ihm damit automatisch der Zugang zum Lernen versperrt.[ii]

Schulische Institutionen in den USA haben auf die Erkenntnisse über den Einfluss der Gefühle aufs Lernen reagiert und entsprechende Lehrpläne erstellt. Zum Beispiel hat die kalifornische Nueva School für überdurchschnittlich intelligente Kinder 1996 einen Lehrplan für Self Science entwickelt. In diesem Unterrichtsplan sind folgende Inhalte verankert: Selbstwahrnehmung, Entscheidungen treffen, Umgang mit Gefühlen, Mitgefühl und Empathie, Kommunikation, sich öffnen, Vertrauen in Beziehungen schaffen, Einsicht, Selbstakzeptanz, Kooperation und Stressabbau:

  • Selbstwahrnehmung: Die Schüler lernen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen und sie entsprechend auszudrücken. Die Zusammenhänge zwischen ihren Gedanken, Gefühlen und Reaktionen müssen erkannt werden.
  • Entscheidungen treffen: Die Schüler begreifen, dass die Entscheidungen vom Denken und/oder vom Gefühl bestimmt werden.
  • Umgang mit Gefühlen: Die Schüler erkennen, was sich hinter einem Gefühl verbirgt, warum sie in bestimmten Situationen wütend oder verletzt sind. Ebenso lernen sie den Umgang mit Gefühlen und Frustrationen.
  • Mitgefühl und Empathie: Hier lernen sie, Gefühle und Probleme anderer zu verstehen.
  • Kommunikation: Die Schüler sprechen über Gefühle und lernen, gute Zuhörer zu sein.
  • Einsicht: Welche Muster verbergen sich hinter bestimmten Gefühlsreaktionen?
  • Selbstakzeptanz: Die Schüler erleben sich selbst positiv. Sie sollen sich mit ihren Stärken und Schwächen auseinandersetzen und über sich lachen können.
  • Kooperation: Die Schüler entwickeln ein Gespür für Gruppendynamik. Sie erkennen, in welchen Situationen sie sich unterordnen und wann sie die Führung übernehmen sollten.
  • Stressabbau: Jeder kann seine Gefühlswelt durch Bewegung, Vorstellungs- und Entspannungsübungen beeinflussen.[iii]

Ein hochbegabter Mensch nimmt eine Vielzahl an Eindrücken auf und ist äußerst sensibel. Lernt er nicht, damit zurechtzukommen, kann ihn das erdrücken. Er muss sich vor seinen eigenen Gefühlen schützen, um zu
(über-)leben. Hochbegabte und hochsensible Menschen können den Umgang mit ihren Gefühlen und Emotionen trainieren – dass es z. B. normal ist, wenn sie in bestimmten Situationen von diesen überwältigt, in anderen aber wieder von ihnen getragen werden. Hochbegabte sollten ihre Gefühle wahrnehmen und respektieren. Fehlt diese Auseinandersetzung, kann es zur Verdrängung der Gefühle kommen, was sich womöglich negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt.



[i]           Dahlke, Ruediger, Krankheit als Symptom, Ein Handbuch der Psychosomatik, Bertelsmann Verlag, München, 18. Auflage 2007.

[ii]           vgl. Braun, Anna Katharina, Wie Gefühle unser Gehirn verändern, Forum Loccum, Nr. 4 / Nov. 2003, 22. Jahrgang , Seite 7.

[iii]           vgl. Stedtnitz, Ulrike, Mythos Begabung, Verlag Hans Huber, 1. Nachdruck 2009, Seite 156+157.