Kapitel 2.2.

2. Hochbegabung – was heißt das?

2.2. Leistung und Erfolg – ein anderer Blickwinkel

Zwei Männer joggen durch den Park. Der linke läuft locker und leicht vor sich hin und hat einen Puls von 130 Schlägen pro Minute. Der rechte hat ein rotes Gesicht, ein verschwitztes T-Shirt und einen sehr verkrampften Laufstil. Sein Puls liegt bei 180 Schlägen pro Minute und damit am Limit. Der linke Mann hat beim Joggen einen Puls wie der rechte beim Sitzen. Er könnte doppelt so schnell joggen oder zwischendurch einen Sprint einlegen. Tut er das aber nicht und joggt immer in dieser für ihn langsamen Geschwindigkeit, wird er nach einer gewissen Zeit nicht mehr schneller laufen können. Sein Körper gewöhnt sich an dieses Tempo sowie den Laufstil und baut Muskeln ab, die er für Sprints bräuchte.

Wer von diesen beiden Joggern leistet mehr? Der linke, der trotz Unterforderung seine Geschwindigkeit nicht erhöht? Der rechte, weil er weiterläuft, obwohl er kurz vorm Kollaps steht? Oder doch der linke Jogger, weil er es schafft, mit niedrigem Puls zu laufen, während sein Partner 50 Schläge pro Minute mehr hat?

Das Wort Leistung oder auch Erfolg geht vielen leicht über die Lippen, aber was genau bedeutet es? Diese Frage soll im Folgenden beantwortet werden, um das Handeln von Hochbegabten einsortieren und bewerten zu können. Wann erbringt ein Hochbegabter Leistung? Wann ist eine Leistung für einen Hochbegabten ein Erfolg?

Eine Bewertung von Leistungen ist möglich, wenn objektiv alle Faktoren miteinander verglichen werden können. Doch darin liegt bereits das Problem. Ein Beispiel: Zwei Schuster fertigen zwei Schuhe in derselben Zeit. Ist ihre Leistung vergleichbar? Wurde das gleiche Material verwendet? Hatten beide Schuster die gleichen Werkzeuge? Wer beurteilt die Qualität der Schuhe? Oder gehen wir in die Schulzeit zurück. Zwei Schüler schreiben dieselbe Note. Welche Leistung haben diese Schüler erbracht? Wie viel lernte jeder von ihnen für diese Note? Welches Wissen hätte zusätzlich nachgewiesen werden können? Der Vergleich von Leistungen ist schwierig – und wird trotzdem vorgenommen. In der Schule werden Leistungen in Form von Noten eingeordnet. Ebenso läuft es in der Ausbildung und während des Studiums. Es wird bei Tests gern übersehen, dass nicht beurteilt wird, was der Einzelne in der Lage ist zu leisten. Es werden Tests verwendet, die standardisiert und wenn möglich vergleichbar sind. Ohne diese Voraussetzungen verteilt kein Lehrer Noten. Als Leistung wird das gemessen, was der Einzelne antwortet. Aber eine individuelle Beurteilung ist das nicht. Die Bewertung erfolgt in unserer Gesellschaft in dieser Form: Noten urteilen über die gesamte Person und ihr Leistungsvermögen.

Eine einheitliche und standardisierte Bewertung ist für Hochbegabte nicht geeignet, da sie auf eine andere Weise denken. Diese wird in der Schule nicht abgefragt. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein Schüler die Mindestanforderungen nicht erfüllt, weil seine Art zu denken nicht in das Schema passt. Viele Lehrer sind nicht in der Lage, anderes Denken zu verstehen und einzuordnen. Das Resultat kann sein, dass aus einem anders denkenden Kind ein schlechter Schüler wird.

Oftmals fühlen sich spät erkannte Hochbegabte bis zum Testergebnis wie der langsamere Jogger. Sie wissen nicht, dass sie viel mehr leisten könnten, während der Partner bereits am Limit läuft. Solange ihnen dies nicht bekannt ist, werden beide auf lange Sicht krank. Der eine stirbt an Herzversagen und der andere an Langeweile.

Das Bewusstsein der eigenen Stärken wirkt sich auf die Gesundheit aus. Es ist kein Problem, beim Training der einzige austrainierte Jogger zu sein, wenn man sich dessen bewusst ist. Kennt man seinen Leistungsstand, kann man anders mit der Situation umgehen, z. B. den Joggingpartner wechseln, intensive Läufe einstreuen oder aktiv nach anderen Lösungen suchen. Solange Hochbegabte glauben, sie müssten sich an das andere Niveau anpassen, weil es der Maßstab ist, der auch für sie gelten soll, werden sie unzufrieden oder krank.

Eine gesunde Selbsteinschätzung beeinflusst den gesellschaftlichen Umgang. Wächst man in einem Umfeld auf, in dem vor allem die Gemeinschaft zählt; in dem auf die Schwächeren Rücksicht genommen wird; in dem die Stärkeren ihre Stärken nicht zeigen dürfen; in dem meistens geschaut wird, dass dem Schwächeren geholfen wird, damit er nicht im Abseits steht – dann nimmt sich ein Stärkerer zurück. Er kann nicht einschätzen, wo er steht und was er leisten könnte. Sollte er seine Stärken ausspielen, wird irgendwo jemand stehen und schimpfen, weil er gegen die Regeln verstoßen hat. Stärkere werden in unserer Gesellschaft kaum berücksichtigt. Ihnen wird unterstellt, alles zu besitzen, Rücksicht wird auf Schwache genommen. Auf Dauer führt das beim Stärkeren zu der Einsicht, dass er nicht wichtig und vielleicht sogar rücksichtslos ist. Wenn er dazugehören möchte, stellt er seine Wünsche hintenan. Empfindungen und Gefühle werden beiseite geschoben, zumal sie sowieso keiner versteht. Der Stärkere wird nicht gefordert, seine Stärken werden über kurz oder lang verkümmern. Oder er geht seinen Weg – aber allein.

Von Leistung spricht man (…) nur dann, wenn eine Person etwas persönlich Anspruchsvolles vollbringt, wenn sie eine Tätigkeit ausübt, bei der zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch ein Misserfolg möglich wäre.[i]

Hochbegabte sind in der Lage, bei neuen Tätigkeiten äußerst schnell Ergebnisse zu liefern. Eine rasche Auffassungsgabe ermöglicht Lösungen, die für den Betreffenden keine Leistung darstellen – oder ist das Aufheben eines Taschentuches eine Leistung? Manche Aufgaben sind für Hochbegabte also nicht erwähnenswert. Es besteht die Gefahr, dass Hochbegabte keine höheren Ziele anstreben, weil sie Aufgaben erfolgreich lösen und ihnen die Motivation, sich mit größeren Schwierigkeitsgraden auseinanderzusetzen, fehlt.

Das Umfeld mit seiner Normierungstendenz kann ein hochbegabtes Kind erdrücken. Bei günstigen Bedingungen wird ein Hochbegabter akzeptiert, wie er ist. In dem Fall kann er mit seiner Familie und dem engen Umkreis viel Freude haben. Werden die Grenzen aber zu eng gesteckt, zerbrechen nicht wenige an diesem Druck. Es gibt keine Richtlinien dafür, wie ein gesundes Verhältnis zwischen dem hochbegabten Kind und seinem Umfeld aussehen sollte. Ein Normierungsdruck wirkt sich jedoch auf die Entwicklung und die Leistungen aus.[ii] Ist ein Hochbegabter gezwungen, sich an den Werten Normalbegabter zu messen, muss er scheitern. Das Wissen um seine Hochbegabung lässt einen spät erkannten Hochbegabten die Unterschiede der eigenen Leistungen zu denen anderer besser verstehen. Es kann nicht derselbe Maßstab angelegt, sondern es muss ein eigener erarbeitet werden. Bei Problemen im Berufsleben können Überlegungen, sich eine andere Arbeit zu suchen, sinnvoll sein: z. B. selbstständig statt angestellt, kreativer Beruf statt Job nach Vorschrift.

Wenn jemand begabt ist, bedeutet das nicht unbedingt, dass er besondere Leistungen erbringt, vielmehr bildet die Begabung zunächst eine Grundlage. Sie ist ein Potenzial, das in Leistung umgewandelt werden muss. Übungs- und Lernphasen bestimmen den Grad der Leistung. Hierbei ist die Unterstützung des sozialen Umfeldes wichtig, da es diese Übungs- und Lernphasen begleitet und im besten Fall fördert. Manche hadern mit sich, weil sich ihre Begabung nicht von allein durchgesetzt hat und sie nicht automatisch zu Höchstleistungen trieb. Doch an dieser Stelle sei an die Hochbegabungsmodelle erinnert, die verdeutlichen, dass sich Begabung ohne fremde Hilfe nicht entfalten kann.[iii]

Unsere Gesellschaft gibt Wertesysteme vor, an denen jeder gemessen wird – jeder bekommt seine Kopfnoten. In der Kindheit benotet die Familie, in der Schule die Lehrer, in der Ausbildung die Ausbilder, beim Studium die Professoren und bei der Arbeit der Chef oder der Vorgesetzte. Als Erwachsener können Sie sich Ihr eigenes Wertesystem bauen, an dem Sie sich messen wollen. Was bedeutet für Sie Erfolg und Leistung? Sie kennen die Voraussetzungen, Ihren Einsatz, Ihr Ziel und schätzen ein, wo Sie mit Ihrem Ergebnis stehen. Es ist schwierig, die eigenen Leistungen einzuordnen, bestimmte Kriterien machen dies jedoch möglich.

Einschätzung mittels Leistungskriterien nach Eckerle und Eckerle:

  • Unterforderung,
  • Überforderung und
  • Herausforderung.[iv]

Von einer Unterforderung können Sie ausgehen, wenn eine Aufgabe Ihnen sehr leicht von der Hand geht und Sie sich nicht groß anstrengen müssen, um sie zu erfüllen. Die Unterforderung ist nicht immer als solche zu erkennen. Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Seminar besuchen. Sie freuen sich darauf, Neues zu lernen, Sie sind gespannt und hoffen, mit dem neuen Wissen in Ihrem Beruf und in Ihrem Leben etwas anfangen zu können. Nach ein paar Stunden fragen Sie sich, wann es denn endlich losgeht und wann die interessanten – und vor allem neuen – Informationen endlich geboten werden. Ihr Eifer lässt nach, langsam kommt die Langeweile zurück, die Sie bereits von anderen Seminaren, Workshops, Tagungen usw. kennen. Trotzdem ist immer auch ein Zweifel da. Vielleicht übersehen Sie aufregende Informationen, womöglich erkennen nur die anderen, worum es wirklich geht, während Sie denken, es sei zu leicht. Egal, wie sehr Sie sich auch anstrengen, es folgt keine Information, die Sie vom Hocker reißt. Enttäuschung macht sich breit, denn Sie haben von diesem Seminar mehr und vor allem Neues erwartet. Sie müssen wieder einmal feststellen, dass Sie mit Ihren Recherchen und Ihrer Vorbereitung vor dem Seminar bereits alle interessanten Informationen gesammelt haben, und dass das Seminar darüber hinaus nichts bieten kann. Sie haben sich also erneut für das falsche Seminar entschieden und unnötig Geld ausgegeben – und ärgern sich, dass Sie es nicht schaffen, sich ein Seminar auszusuchen, in dem Sie wirklich gefordert werden. Als Hochbegabter lechzen Sie vielleicht nach Informationen, damit Sie zum Beispiel endlich in der Firmenhierarchie eine Stufe höher steigen können, doch es gibt keine Fortbildung, die das leistet. Es kann auch sein, dass Sie ein neues Hobby beginnen und im Kurs merken, dass Sie talentiert sind. Sie begreifen schnell und setzen die Übungen um. Danach wollen Sie wissen, was die anderen erstellt haben, aber sie haben mit der Aufgabe noch nicht begonnen. Nun sitzen Sie wieder in einer Gruppe, in der Sie weiter sind als alle anderen. Was tun? Diese Beispiele könnten beliebig weitergeführt werden, sei es im Bereich der Arbeit oder der Freizeit. Die Unterforderung bestimmt das Leben von Hochbegabten.[v]

Bei der Überforderung handelt es sich um Aufgaben, die nicht zu schaffen sind, gleich, wie viel Energie, wie viel Wissen oder auch Konzentration aufgewendet werden: Die Aufgabe ist zu schwer. Um Unterforderung zu vermeiden, suchen sich Menschen neue Aufgaben. Diese werden gewählt, weil man glaubt, sie lösen zu können. Bei einer Aufgabe, die Sie überfordert, kommen Sie jedoch nicht weiter, wie sehr Sie sich auch anstrengen. Sie haben das Gefühl, Ihnen fehle etwas, um diese Aufgabe zu bewältigen, aber Sie bekommen dieses Etwas nicht und wissen auch nicht, wo Sie es finden könnten. Viele Aufgaben müssten keine Überforderung sein, wenn ein Mentor oder Coach dabei helfen würde, das Ziel zu erreichen. Es gibt jedoch kaum Mentoren und wenn, kostet ihre Leistung viel Geld. Deshalb sollten Sie sich Aufgaben suchen, die Sie – mit Anstrengung – selbst schaffen können.[vi]

Eine Herausforderung ist eine Aufgabe, bei der Sie sich anstrengen müssen, um sie zu lösen. Sie müssen alles aus sich herausholen, Ihr Wissen auf andere Bereiche übertragen, Transferleistungen tätigen und konzentriert bei der Sache bleiben – der Lohn am Ende ist die Lösung der Aufgabe. Zahlreiche Aufgaben stellen für viele eine Herausforderung dar, jedoch nicht für Hochbegabte. Aufgaben für Hochbegabte finden sich im Alltag und bei der Arbeit eher selten, Sie können sie sich aber selbst stellen. Wie wichtig Herausforderungen für die Persönlichkeitsentwicklung sind, wird im Kapitel “Hirnforschung” gezeigt. Als Hochbegabter kennen Sie vermutlich vor allem die Unter- und die Überforderung. In der Schule sind Herausforderungen rar. Hochbegabte Kinder, die Eltern oder Bezugspersonen haben, die ihnen Herausforderungen stellen, gehören zu einer Minderheit. Das bedeutet, dass die meisten Hochbegabten nicht wissen, wie es ist, eine Herausforderung zu meistern. Suchen Sie sich Aufgaben und denken Sie daran, dass eine Herausforderung Sie voranbringt, denn Sie müssen Ihr ganzes Wissen abrufen, sich weiteres Wissen aneignen und es mit dem bestehenden vernetzen. Wer keine Herausforderungen kennt, wird nach der ersten Euphorie oder nach den ersten Schritten, die fast jedem Hochbegabten leicht fallen, frustriert die Flinte ins Korn werfen. Die meisten Hochbegabten wissen nicht, dass sie über diese ersten Schritte hinausgehen müssen. Die Herausforderung besteht darin, nicht an dem Punkt aufzugeben, wenn die ersten Schwierigkeiten kommen. Dieses Durchhaltevermögen müssen Sie sich vielleicht erst antrainieren, aber Sie sollten es tun. Die Glücksgefühle, die nach einer gelösten, herausfordernden Aufgabe entstehen, sind Lohn genug für jede harte Arbeit.[vii]

Wie sich Herausforderungen, Unter- und Überforderungen auswirken, erfahren Sie im nächsten Kapitel.

Der Glaube an sich selbst und die eigene Intelligenz kann Berge versetzen. Dweck belegt empirisch, dass Menschen Größeres leisten, wenn sie daran glauben, dass Intelligenz veränderbar ist.[viii]

Hochbegabung ist keine Eigenschaft, die beiseitegelegt werden kann. Sie gehört zu einer Person wie die Haarfarbe und die Körpergröße. Erwarten die Mitmenschen von Hochbegabten, dass sie sich wie andere verhalten, bedeutet das, die Begabung zu ignorieren. Vielleicht kennen Sie das? Vielleicht bekamen Sie Vorwürfe oder Strafen, weil Sie Ihre Hochbegabung nicht leugnen konnten oder wollten? Es wurde von Ihnen etwas erwartet, was Sie niemals leisten konnten. Im Grunde genommen ist diese Erwartung der anderen wie eine Gewaltanwendung an der Person.[ix]



[i]           Grone, Wibke v. / Petersen, Jarg : Zum Lernen anregen. Motivation in Theorie und Praxis. Ein praxisorientiertes Studien- und Arbeitsbuch mit Lernsoftware – Donauwarth: Auer Verlag 2002, Seite 26.

[ii]           vgl. Schlichte-Hiersemenzel, Barbara, Zur psycho-sozialen Situation hochbegabter Kinder, Entnommen der Homepage iikuh -Oldenburger Elterninitiative fuer hochbegabte Kinder.

[iii]           vgl. BMBF, Begabte Kinder finden und fördern, Bonn, Oktober 2003.

[iv]           Eckerle, Anne & Eckerle, Thomas, Ursachen für misslingende Schulkarrieren von hochbegabten Kindern, 2006.

[v]           vgl. Scheich, Henning, Lern- und Gedächtnisforschung, Schulentwicklung mit Hilfe der Neurobiologie, 2003.

[vi]           vgl. Scheich, Henning, Lern- und Gedächtnisforschung, Schulentwicklung mit Hilfe der Neurobiologie, 2003.

[vii]          vgl. http://leb.bildung-rp.de/info/veranstaltungen/bericht/2002-11-20_ggt_scheich.pdf

[viii]           vgl. Stedtnitz, Dr. Ulrike, Mythos Begabung, Verlag Hans Huber, 1. Nachdr. 2009, S. 20.

[ix]           vgl. Schlichte-Hiersemenzel, Barbara, Zur psycho-sozialen Situation hochbegabter Kinder, Entnommen der Homepage iikuh -Oldenburger Elterninitiative fuer hochbegabte Kinder.